"Vielfalt schätzen - Zusammenhalt fördern"
Wir feiern heute, was wir vor 20 Jahren erreicht
haben: Einigkeit und Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland...
Seit 20 Jahren sind wir wieder "Deutschland einig Vaterland". Doch
was meint "einig Vaterland"? Was hält uns zusammen? Sind wir
zusammengewachsen, trotz aller Unterschiede?...
Es gab Ängste und Widerstände. Vor allem im Ausland fragten sich
viele, ob das gutgeht, wenn es Deutschland wieder gutgeht. Wer wollte
ihnen das verdenken, nach den von Deutschland ausgehenden Irrwegen,
Schrecken und Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts...
Deutschland konnte als Ganzes wieder zum gleichberechtigten Mitglied
der Völkergemeinschaft werden. Wir sind umgeben von Freunden. Welch ein
großes Glück - für unser Land und alle Menschen in Europa.
Damit kommen wir zur zweiten Antwort auf unsere Frage: "Deutschland,
einig Vaterland"? Was heißt das heute? 20 Jahre nach der Einheit stehen
wir vor der großen Aufgabe, neuen Mut zur Veränderung zu finden, neuen
Zusammenhalt zu ermöglichen in einer sich rasant verändernden Welt. Denn
in dieser Welt ist das Versprechen alter Gewissheiten natürlich
populär, aber häufig trügerisch.
Unser Land ist offener geworden, der Welt zugewandter, vielfältiger -
und unterschiedlicher. Alltag und Lebensentwürfe haben sich gewandelt.
Die Gründe kennen Sie alle: weltweiter Wettbewerb, globale Handelswege,
neue Technologien, grenzenlose Kommunikation, Zuzug von Einwanderern,
demographischer Wandel und - ja, auch das, neue Bedrohungen von außen.
Die Lebenswelten in unserem Land driften eher auseinander: die von Alten
und Jungen; von Spitzenverdienern und denen, die vom Existenzminimum
leben; von Menschen mit und ohne sicherem Arbeitsverhältnis; von Volk
und Volksvertretern; von Menschen unterschiedlicher Kulturen und
Glaubensbekenntnisse.
Manche Unterschiede lösen Ängste aus. Leugnen dürfen wir sie nicht.
Trotzdem kann gar nicht oft genug gesagt werden: Ein freiheitliches Land
wie unseres - es lebt von Vielfalt, es lebt von unterschiedlichen
Lebensentwürfen, es lebt von Aufgeschlossenheit für neue Ideen. Sonst
kann es nicht bestehen. Zu viel Gleichheit erstickt die eigene
Anstrengung und ist am Ende nur um den Preis der Unfreiheit zu haben.
Unser Land muss Verschiedenheit aushalten. Es muss sie sogar wollen.
Aber zu große Unterschiede gefährden den Zusammenhalt.
Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schließen - das
bewahrt vor Illusionen, das schafft echten Zusammenhalt. Das ist die
Aufgabe der "Deutschen Einheit" heute.
1989 haben die Ostdeutschen gerufen: "Wir sind das Volk, wir sind ein
Volk!" Das rief Nationalgefühl wach, das lange verschüttet war - aus
nachvollziehbaren historischen Gründen. Inzwischen ist in ganz
Deutschland ein neues Selbstbewusstsein gewachsen, ein unverkrampfter
Patriotismus, ein offenes Bekenntnis zu unserem Land, das um seine große
Verantwortung für die Vergangenheit weiß und so Zukunft gestaltet.
Dieses - im Sinne des Wortes - Selbst-Bewusstsein tut uns gut. Es tut
auch unserem Verhältnis zu anderen gut: Denn wer sein Land mag und
achtet, kann besser auf andere zugehen.
"Wir sind ein Volk!" Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung
sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht gegründet ist
auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht
haben. Mit einem so verstandenen "wir" wird Zusammenhalt gelingen -
zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so
lange einheimisch sind, dass sie vergessen haben, dass vielleicht auch
ihre Vorfahren von auswärts kamen.
Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: "Sie sind unser
Präsident" - dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich
Ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung, mit der
ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben.
Ich habe mich gefreut über den offenen Brief einer Gruppe von
Schülerinnen und Schülern mit familiären Wurzeln in 70 verschiedenen
Ländern. Sie alle sind Stipendiaten einer Stiftung, die engagierte
Jugendliche in Deutschland unterstützt. Sie schreiben: "Für uns spielt
keine Rolle, woher einer kommt, sondern vielmehr, wohin einer will. Wir
glauben daran, dass wir gemeinsam unseren Weg finden werden. Wir wollen
hier leben, denn wir sind Deutschland."
Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade,
wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells
lautet: Wir sind Deutschland!
Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Weil diese Menschen mit
ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie
verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, die
Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht
zulassen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse.
Denn die Zukunft, davon bin ich felsenfest überzeugt, gehört den
Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für
die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem. Deutschland - mit
seinen Verbindungen in alle Welt - muss offen sein gegenüber denen, die
aus allen Teilen der Welt zu uns kommen. Deutschland braucht sie! Im
Wettbewerb um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen und anziehend
sein, damit die Besten bleiben. Meine eindringliche Bitte an alle
lautet: Lassen wir uns nicht in eine falsche Konfrontation treiben.
Johannes Rau hat bereits vor zehn Jahren sehr klug und nachdenklich an
uns alle appelliert, "ohne Angst und ohne Träumereien" gemeinsam in
Deutschland zu leben.
Wir haben doch längst Abschied genommen von drei Lebenslügen. Wir
haben erkannt, dass Gastarbeiter nicht nur vorübergehend kamen, sondern
dauerhaft blieben. Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden
hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und
nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben auch
erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und
Probleme regelmäßig unterschätzt haben: das Verharren in Staatshilfe,
die Kriminalitätsraten und das Machogehabe, die Bildungs- und
Leistungsverweigerung. Ich habe die vielen hundert Briefe und E-Mails
gelesen, die mich zu diesem Thema erreicht haben. Mich beschäftigen die
Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger sehr, wie auch die Politik
diese erkennbar und zu Recht ernst nimmt.
Und dennoch: Wir sind weiter, als es die derzeitige Debatte vermuten
lässt. Es ist längst Konsens, dass man Deutsch lernen muss, wenn man
hier lebt. Es ist Konsens, dass in Deutschland deutsches Recht und
Gesetz zu gelten hat. Für alle - wir sind ein Volk.
Es gibt Hunderttausende, die sich täglich für bessere Integration
einsetzen. Viele - zum Beispiel als Integrationslotsen - freiwillig,
uneigennützig und ehrenamtlich. Unsere Kommunen und die Länder leisten
Beträchtliches, wenn sich Politik und Bürger zusammentun. Alle sollen
gemeinsam das Netz weben, das unsere Gesellschaft in aller Vielfalt und
trotz aller Spannungen zusammenhält.
Auch wenn wir weiter sind, als es die derzeitige Debatte vermuten
lässt, sind wir ganz offenkundig nicht weit genug. Ja, wir haben
Nachholbedarf, ich nenne als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse
für die ganze Familie, Unterrichtsangebote in Muttersprachen,
islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern und
selbstverständlich in deutscher Sprache. Und ja, wir brauchen auch viel
mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten - etwa bei
Schulschwänzern. Das gilt übrigens für alle, die in unserem Land leben.
Zu allererst brauchen wir aber eine klare Haltung. Ein Verständnis
von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine
Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt
ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum
gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische
Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor
fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem
West-östlichen Divan zum Ausdruck gebracht: "Wer sich selbst und andere
kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu
trennen."
Für unser Land hat sich am 3. Oktober 1990, exakt heute vor 20
Jahren, eine Hoffnung erfüllt. Gleichzeitig haben wir an diesem 3.
Oktober eine einmalige Chance zum Neuanfang bekommen. Wir haben diese
Chance überzeugend genutzt. Lassen Sie uns - nicht nur heute - zusammen
stolz sein auf das Erreichte. Aber wir sind nicht fertig, ein Staat, ein
Volk ist nie fertig. Es geht darum, die Freiheit zu bewahren, die
Einheit immer wieder zu suchen und zu schaffen. Es geht darum, dieses
Land zu einem Zuhause zu machen - für alle; sich einzusetzen für
gerechte Verhältnisse - für alle. Dieses Land ist unser aller Land, ob
aus Ost oder West, Nord oder Süd und egal mit welcher Herkunft. Hier
leben wir, hier leben wir gern, hier leben wir in Frieden zusammen -
hier stehen wir ein für Einigkeit und Recht und Freiheit.
Gott schütze Deutschland.